Von Kindern lernen heißt springen lernen



Seit einigen Jahren ist das Seilspringen für mich zu einer Leidenschaft geworden, denn es ist eine effektive Methode, meinem Körper ein paar Herausforderungen abzuringen und diesen bei einem knappen Zeitbudget fit zu halten. Und da es auf Dauer langweilig wird, einfach nur ganz normale Grundsprünge zu springen, habe ich angefangen, mich auch an andere, anspruchsvollere Techniken zu wagen – dank vieler Internet-Tutorials gibt es da genügend Anregungen. Die Köngisdispziplin allerdings prüft mich nun schon seit vielen Monaten in meiner Geduld und Zielstrebigkeit: der Kreuzdurchschlag. Sieht er doch so leicht und spielerisch aus, ist er aber – zumindest für mich – unglaublich schwer in der Umsetzung. Also übe und übe und übe ich, immer wieder. Bis ich eines Tages zusammen mit meiner kleinen Tochter auf der Matte stehe und aus dem Staunen nicht wieder heraus komme: sie springt Kreuzdurchschläge, einfach so, als sei es das Leichteste der Welt! Gut, sie ist seit ein paar Wochen in der hiesigen Seilspringen-Sportgruppe aktiv, aber eben erst seit ein paar Wochen. Ich übe gefühlt seit 10 Jahren und kann es nicht annähernd so gut wie sie. Und als ich sie frage „Wie machst Du das nur?“ sagt sie „Mama, Du musst einfach ganz schnell hintereinander springen und nicht zwischendrin Grundsprünge machen.“ Ich folge diesem einfachen Rat und siehe da: es funktioniert! Plötzlich kann auch ich mehrere Kreuzdurchschläge hintereinander springen! Und das wirklich interessante daran ist: als ich nachforschte, wer meiner Tochter diesen Trick beigebracht hat war das Ergebnis: niemand. Sie hat Kreuzdurchschäge bei anderen gesehen und so lange probiert, bis sie den Bogen raus hatte.

 

Warum ich Ihnen das erzähle? Weil es mir (mal wieder) gezeigt hat: Jedes Kind hat seine eigenen Strategien und Wege des Lernens und ist in der Regel genau mit diesen Strategien erfolgreich! Das sehen wir insbesondere bei den ganz Kleinen. Kein Mensch kommt auf die Idee, ihnen zu zeigen, wie sie krabbeln sollen. Sie machen ihre Fortschritte weitestheghend ohne unser Zutun, auf einer Vielzahl an Wegen, die so individuell sind, wie die Kinder selbst und wir vertrauen vollständig auf ihre Fähigkeit des Selbstlernens. Aber dieses Vertrauen in die Kinder geben wir spätestens mit dem Eintritt in die Schule und dem Erwerb der Kulturtechniken auf. Da meinen wir Erwachsenen allzu oft, den Kindern sagen zu müssen, welches der richtige Weg ist, eine bestimmte Fertigkeit zu erlernen.

 

Wir lassen sie nicht ihre eigenen Wege in die Naturwissenschaften, die Sprachen, die Kunst finden, sondern nötigen ihnen unsere Wege auf. Schlimmer noch: wir erwarten sogar, dass sie unsere Aufgaben in einer von uns vorbestimmten Weise beantworten, sonst werten wir sie als falsch. Wir geben uns keine Mühe zu verstehen, warum ein Kind einen bestimmten Lösungsweg gewählt hat. Kinder haben in der Regel immer eine logische Erklärung für ihren Weg, aber eben ihre eigene logische Erklärung und die ist nicht unbedingt deckungsgleich mit der des Lehrers. Wir könnten nach Irrtümern in der Logik des Kindes suchen und wenn wir tatsächlich welche finden, diese zielgerichtet korrigieren. Das aber ist oft nicht unser Ansatz. Wir suchen nicht nach Irrtümern, die wir korrigieren könnten, sondern bewerten, inwieweit unsere Erwartung erfüllt wurde.

 

Damit aber verschütten wir die eigenen Wege der Kinder. Wenn wir ihnen permanent signalisieren, dass ihre Gedankenpfade falsch sind und nur die der übergeordneten Autorität richtig sind, verlieren sie das Vertrauen in sich selbst und vertrauen irgendwann der übergeordneten Autorität mehr, als ihrer eigenen Intuition. Und das nicht nur bezogen auf Unterrichtsfächer!

 

Gleiches passiert leider auch mit Lehrer*innen, die sich auf den Weg machen, anders mit den Kindern zu arbeiten, die versuchen, die Kinder zu verstehen, ihnen nicht das eigene Schema aufzudrängen, sie jene eigenen Strategien entwickeln und Wege gehen zu lassen. Viel zu oft erfahren solche  Lehrer*innen von Kolleg*innen oder Vorgestzten, dass ihr Weg nicht der richtige sei, dass man von ihnen ein pädagogisches Handeln erwartet, das Kinder in vorgefertigte Schemen presst. Bis sie irgendwann das System Schule verlassen. Insofern geht es ihnen nicht anders als den vielen Kindern, die tagtäglich erleben, dass sie eine Aufgabe nicht richtig gelöst haben, nur weil sie nicht der Erwartungshaltung des Lehrers entspricht.

 

Ist das wirklich unser Ziel? Sollte es nicht die Aufgabe der Pädagogik sein, insbesondere in schulischen Prozessen, die Kinder auf ihrem ganz eigenen Weg zu begleiten und nur dann einzugreifen, wenn das Kind signalisiert, dass es nicht weiterkommt?

 

Deswegen bedeutet die Metapher „Von Kindern lernen heißt springen lernen“ für mich in der konkreten Erfahrung, dass ich die Technik des Kreuzdurchschlages wesentlich von (m)einem Kind gelernt habe. Auf der Metaebene betrachtet heißt das für mich, dass es uns Erwachsenen gut täte, viel mehr und viel öfter unserer eigenen Intuition zu vertrauen und nicht immer so verkopft und damit oft auch verkrampft an Veränderungen und Neues heran zu gehen. Es heißt aber für mich insbesondere auch, der Intuition der Kinder zu vertrauen und diese zu stärken, anstatt sie zu schwächen. Und das wiederum hieße, wirklich offen und neugierig die Denk- und Lösungswege der Kinder zu beobachten und nachvollziehen zu wollen. Und damit würden wir Erwachsenen wirklich große Sprünge machen – nicht nur in der Pädagogik.

 

Zu diesem Artikel wurde ich neben meiner Tochter auch von einer, mir sehr wichtigen befreundeten und begnadeten Grundschullehrerin inspiriert. Sie lässt die Kinder ihre Wege finden, macht sich die Mühe, zu verstehen, was hinter diesen Wegen steht, wie das Kind zu seiner Lösung kommt – und macht gerade die traurige Erfahrung, dass genau das nicht gewollt ist. Schade!